Eine Fahrt lang

Autorin: Regina Patzke

Mensch, vier Uhr schon wieder. Erschreckend, wie schnell die Zeit vergeht, wenn man viel zu tun hat. In sechzehn Minuten fährt der Zug laut Plan los. Ich bin froh, dass er so früh eingefahren ist. Zwar habe ich nichts dagegen, eine Weile auf einer Bank am Gleis zu sitzen, um mir die Menschen anzusehen, die mit oder ohne Gepäck an mir vorbeigehen, aber noch lieber sitze ich im Zug und habe dann das Gefühl, dass es gleich losgeht. Nichts mag ich weniger, als lange untätig zu warten. Wenn ich daran denke, was ich noch alles zu tun habe, was ich noch tun könnte, wenn ich mehr Zeit hätte. Die Zeit, ein Kontinuum für sich und hat den Menschen so fest im Griff, hat mich im Griff.
Jetzt fährt der Zug aus dem Bahnhof. Seit halb sieben heute Morgen bin ich schon unterwegs. Frage nicht nach Sinn oder Zweck, denn die Zeit erlaubt das nicht. Erst jetzt, da ich auf meiner Rückfahrt im Zug sitze und nicht mehr tun kann, als auf die Ankunft am sich zurzeit drei Stunden entfernt befindlichen Zielbahnhof zu warten, hinterfrage ich den heutigen Verlauf unserer Gespräche und dessen Ergebnisse. Rückblickend bin ich immer noch so unzufrieden, wie ich mich schon während der Diskussionen fühlte.
Anfangs hatte die Besprechung der von jedem Teilnehmer erarbeiteten Ergebnisse einen effizienten Verlauf genommen. Mit vorrückender Zeit jedoch, gingen wir immer mehr auf Details ein und verloren uns hemmungslos in Einzelheiten, um nach etwa fünf Stunden festzustellen, dass wir am heutigen Tage zu keinem für alle zufriedenstellenden Ergebnis gelangen würden. Eine weitere Stunde später läuteten wir das Ende ein. Nicht ohne Stolz in der Stimme verkündete der Chairman ein für diesen Tag positives Ergebnis. Sicherlich. Es gehörte nun einmal auch zur Aufgabe eines Gruppenleiters, die Teilnehmer zu motivieren. Welchen Sinn hätte es wohl, dieser Einstellung zu widersprechen oder sie zu kritisieren.
Andere Leute bauten in der Zeit Häuser, fuhren die Ernte ein oder erzogen Kinder. Wir diskutierten und beschrieben elektronisches Papier. Ja, sicherlich, unser Ergebnis würde irgendwann einmal Produktionsunternehmen dazu befähigen, ihre Produktion gleichzeitig ablauf- wie kosten- und qualitätsoptimiert in Echtzeit steuern zu können. Und wäre ich jetzt wohl närrisch, wenn ich das mit einem versierten Künstler verglich, dem wir jetzt zeigen wollten, wie er seinen Pinsel zu führen habe?
Seit ich in meinem Leben zunehmend Misserfolge eingesteckt habe, bin ich weniger rebellisch geworden. Mit zunehmendem Alter werden die Vorstellungen vom Leben nüchterner. Die Farben verblassen, das Rosa ebenso wie das Schwarz. Ursprüngliche Pläne werden zu vagen Träumen. Und die Zeit flieht nur so davon.
Morgens ist es am Schönsten. Dann weiß ich den Tag noch vor mir, bin guter Dinge und meine, dass ich viel schaffen werde und sicherlich auch noch Zeit für eines meiner diversen Hobbys abzweigen kann. Tatsächlich wird in der Regel nichts daraus. Wenn ich den Tag nicht gleich einem meiner Hobbys widme, komme ich auch nicht in dessen Verlauf dazu. Sobald der Computer läuft, erlebe ich die Welt um mich herum eher intuitiv als aktiv gestaltend. Allein für die Mittagspause gönne ich mir ein echtes Stück Leben. Ich habe mir angewöhnt, mir mittags einen frischen Salat zuzubereiten und dazu eine Kleinigkeit zu kochen. Für ein aufwändiges Mahl hätte ich weder Zeit noch Muße. Darum mögen sich Köche und die eine oder andere Hausfrau kümmern. In unserer Wohlstandsgesellschaft besteht einfach kein Anlass dazu, sich stundenlang mit der Nahrungsaufnahme zu beschäftigen. Das wäre für mich dann ein Hobby, für das ich eh keine Zeit habe.
Jetzt sind es noch gut zwei Stunden. Die Fahrt zieht sich in die Länge. Und statt hier nur zu grübeln, könnte ich jetzt schon so gut das Protokoll schreiben, aber leider ist der Akku meines Notebooks leer und keine Steckdose in Sicht. Schon paradox. Wo einerseits zu viel Zeit ist, fehlt sie woanders. Als ich noch zur Schule gegangen bin, hatte ich ständig das Gefühl, dass diese mir die Zeit stehle. Damals war ich noch ein Meister darin, mein Leben in Träumen zu leben. Ich war mir sicher, dass ich all meine Ideen einmal verwirklichen würde, wenn ich nur alt genug dazu wäre. Das Gefühl der damaligen Unzulänglichkeit störte mich angesichts der vielen Möglichkeiten, die sich mir künftig böten, gar nicht. Alles, was ich träumte, würde ja später real werden. Dafür würde ich schon sorgen. Kein Problem. Leider ist es nun doch zu einem geworden. Meine positive Energie, der Enthusiasmus und mein Vertrauen in mich selbst schwinden mit jedem erlebten Rückschlag ein wenig mehr. Das geht sogar so weit, dass ich an so manchem Morgen nicht aufstehen mag, wobei mir doch gerade der Morgen so verheißungsvoll erscheint.
Oftmals nehme ich mir morgens vor, mein Leben an genau dem jeweiligen Tag aktiv zu verändern. Es gibt so viele Möglichkeiten. Ich habe so viele Ideen, was ich tun könnte, um meinen bisherigen Lebenslauf positiv zu unterbrechen. Wie ich die Einöde stoppen könne. Leider nur komme ich einfach nicht dazu, auch nur eine der Möglichkeiten in die Tat umzusetzen. Schließlich muss ich arbeiten, um mir meinen Unterhalt zu verdienen. Zu viel mehr reicht es nicht und das liegt nicht daran, dass ich schlecht ausgebildet wäre. Jedoch bevorzuge ich einen Arbeitsplatz mit gutem Betriebsklima und weniger Bezahlung statt umgekehrt.
Noch anderthalb Stunden, dann erreicht der Zug, in dem ich sitze, den Hauptbahnhof Hannover. Dann bin ich fast zu Hause. Es ist wichtig, dass ich jetzt während der Fahrt nicht den Fehler begehe, den Sinn meiner Arbeit zu hinterfragen. Das ist nicht gut, denn das demotiviert mich und stellt meine Existenz infrage. Reicht es nicht, sich in einen gut aussehenden Anzug zu werfen, um dann ab und zu durch Deutschland zu der einen oder anderen Konferenz oder zu einem Seminar zu fahren, damit die Welt sieht, wie erfolgreich man wirkt?
Nein, mir reicht das definitiv nicht aus. Allerdings war ich schon immer egozentrisch und wollte für viele Menschen wichtig sein. Damit unterscheide ich mich nicht viel von den Menschen, die eine höhere Position bekleiden. Und leider bringt mich diese Eigenschaft auch nicht näher an die Ziele meiner Träume. Die Unfähigkeit zur Erfüllung meiner Träume erkläre ich mir heute damit, dass ich zu wenig Geld und Zeit habe, oder dass die Träume nicht die richtigen sind. Ich weiß selbst, dass das Ausreden sind, um nicht erneut feststellen zu müssen, dass es an mir selbst liegt, dass ich meine Träume nicht zur Realität machen kann. Jedenfalls hindert mich niemand anderes daran, mein Leben so oder anders zu führen. Aber ich habe Angst. Ich habe Angst, dass ich wieder scheitere. Dass ich wieder einmal mehr erleben muss, wie unmöglich es ist, meine abstrakte Fantasie in eine realistische Form zu gießen, um sie lebensfähig zu gestalten. Dazu bin ich offenbar nicht flexibel genug.
Noch eine gute Stunde, dann erreichen wir Hannover. Trotzdem ich immer wieder eine Art innere Unruhe empfinde, wenn ich nicht arbeiten kann, langweile ich mich in der Regel nicht. Schon als Kind wusste ich immer wieder mich selbst zu beschäftigen. Noch heute könnte meine Fantasie Bände von guten wie schlechten Büchern füllen. Schade nur, dass die vielen schönen Hirngespinste mich bisher nicht dazu befähigt haben, auch nur eines davon real werden zu lassen. Im echten Leben gibt es Hindernisse, die meine Fantasie nicht kennt. Das zeigt nur einmal mehr wieder den Unterschied zwischen optimaler oder sogar idealer Theorie und lebensnaher Praxis.
Und solche Floskeln wie "Jeder ist seines Glückes Schmied." oder "Du musst nur fest genug an deine Träume glauben, dann werden sie auch wahr." bekommt man so lange um die Ohren gehauen, bis man selbst an die eigene Unfähigkeit glaubt. Ich bin ja selbst schuld, dass sich meine Träume nicht verwirklichen lassen. Entweder sind sie einfach zu abgehoben, so dass ich mich in Bescheidenheit üben müsste, oder ich visualisiere mir den Erfolg nicht deutlich genug, so dass ich an meinem Selbstbewusstsein feilen müsste. Was denn also? Was muss ich tun und wie viel muss ich bezahlen, um mein Leben so zu leben, wie ich mir das erträume?
Jetzt befinden wir uns kurz vor Hannover. Wieder einmal mehr habe ich meine Zeit damit verschwendet, mir selbst zu beweisen, wie unmöglich ein erfülltes und glückliches Leben für mich ist. Früher war das anders. Jeder Misserfolg weckte meine Hoffnung für die Erfüllung eines anderen Traums. Zwar wurde dadurch keiner meiner Träume realistischer, aber ich hatte ja mehrere. Ich war mir sicher, dass der eine oder andere davon später, wenn ich mein Leben endlich leben würde, in Erfüllung ginge. Ist er nicht. Ich habe nur die ganz unmöglichen Träume gegen andere getauscht, die aber leider offensichtlich ebenso wenig für mich zu erfüllen sind. Vielleicht schaffe ich das einfach nicht in diesem Leben. Vielleicht muss ich bis zum nächsten Leben warten.
Ich steige jetzt aus.